DIE JUNGEN FRAUEN VON WAREN
In „Die Jungen Frauen von Waren“ erzählen vier junge Frauen die Geschichten ihrer Selbstverwirklichung, ihrer Wünsche und Träume im Hier und Jetzt und für die Zukunft.
Protokolle und Fotos: Saskia Reis
Meinem Vater geht es im Moment sehr schlecht. Vor fünf Jahren hatte er einen Unfall, er ist vom Dach gefallen. Er raucht sehr viel und seine Knie sind kaputt. Meine größte Angst ist, dass er bald sterben könnte und keine großen Ereignisse in meinem Leben mehr miterleben wird. Man muss Zeit mit seiner Familie verbringen, sonst ist es keine richtige Familie.
Von anderen Mädchen hebe ich mich oft ab, weil ich erwachsener rüberkomme. Auf der einen Seite ist es ein Kompliment, wenn das jemand bemerkt, auf der anderen Seite erinnert es mich immer an diese Zeit, die nicht gerade einfach war für mich. Mein Vater hat einen Bauernhof, er war tagsüber nicht da und ich war auf mich allein gestellt. Musste meine Wäsche waschen, Essen und Hausaufgaben alleine machen. Jetzt mache ich mir auch meine Arzttermine und organisiere alles selbst.
Ich bin höflich, humorvoll und liebevoll – manchmal aber auch aggressiv. Das habe ich von meinem Vater, er wird auch schnell aufbrausend. Wer mich inspiriert ist der Sänger Mudi. Er hat kurdisch-libanesische Wurzeln und schon viel erlebt. Er erklärt in seinen Liedern zum Beispiel, wie Liebe funktioniert und dass man seinen Weg nicht bestimmen kann – dass es kommt, wie es kommt. Das hilft mir, besser mit dem Leben klarzukommen.
Nie könnte ich etwas mit einem Jungen anfangen, den ich nicht richtig liebe. Trotzdem ging so etwas über mich rum, deshalb mag ich Waren nicht mehr so sehr. Die suchen sich hier immer jemanden aus, der ein bisschen anders ist und machen denjenigen fertig. Ich verstehe das nicht, wie man so etwas machen kann, dabei muss man sich doch eigentlich selbst schlecht fühlen. Waren ist, was die Jugendlichen betrifft, eine verlogene Stadt. Was auch eine Rolle spielt, ist, dass hier jeder jeden kennt. Man wird verachtet auf unserer Schule, wenn man wie ich in den Jugendclub Joo geht. Dafür habe ich schon viele Beleidigungen eingesteckt mit so Sprüchen wie „Drecksjugendclub“ und, „da sind nur dreckige Leute“. Die waren noch nie dort, haben irgendwas Schlechtes gehört und verurteilen das dann. Ich habe Spaß im Joo. Die Betreuer Johannes, Susi und Kenny helfen mir, es herrscht eine tolle, entspannte Atmosphäre. Man beleidigt einander nicht. Wenn man das tut, wird man rausgeschmissen.
Ich würde mir wünschen, dass Menschen nicht nach ihrer Religion oder Herkunft beurteilt werden. Jeder soll gleich behandelt werden. Ich merke es ja an meinen Freunden: Die werden dafür fertig gemacht, dass sie Araber sind. Und ich dafür, dass ich mit denen abhänge.
Meine wichtigste Errungenschaft bisher: Letztes Jahr war ich die Schlechteste in der Klasse, dieses Jahr gehöre ich zu den Klassenbesten. Ich habe mich einfach mehr um die Schule gekümmert. Ich lerne, genieße aber trotzdem meine Jugend. Die wichtigste Frau in meinem Leben ist meine Mutter. Sie hat mir bei allem geholfen. Wenn ich Stress hatte, hat sie das nie meinem Vater erzählt und versucht es mit mir zu klären. Bisher konnte ich nie lange von meinem Vater getrennt sein, aber trotzdem hat mir meine Mutter sehr viel mehr geholfen im Leben. Was für Frauen unbedingt verbessert werden müsste: mehr Notunterkünfte und das Recht auf Abtreibung.
Sobald ich 18 bin, will ich nach Berlin. Dort fühle ich mich freier.
Am meisten bewundere ich meine Mama. Auch wenn sie viel Stress auf der Arbeit hat, hört sie mir zu und ist für mich da. Sie ist mein Vorbild. Denn so, wie sie es macht, ist es gut: Es gibt Regeln, aber die setzt sie nicht stur durch. Ich würde es mit meinen Kindern später genauso handhaben. Was unsere Beziehung besonders macht ist, dass wir einander immer zuhören und füreinander da sind. Wenn sie lacht und erzählt, merke ich, dass es ihr gut geht. Wenn es ihr gut geht, geht es mir gut. Umgekehrt freut sie sich ja auch für mich, wenn es mir gut geht. Ich finde, diese Freude sollte man zurückgeben. Das ist wie ein Kreislauf. Als ich 14 war, war ich mal eine Zeitlang zickig und es gab Streit, ich hatte zudem Probleme in der Schule. Jetzt in meiner Klasse ist es auch nicht sehr harmonisch. Aber meine Mutter sagt: „Komm, du gehst da jetzt hin, hör einfach nicht auf die...“ – jeden Tag, obwohl es ihr wahrscheinlich schon aus den Ohren heraushängt. Das motiviert mich und hilft mir. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich ihr zu wenig dafür danke.
Später hätte ich gerne einen Wohnsitz, wo ich mich wohlfühle, Kinder und einen Mann, der immer da ist. Das ist mein Bild vom vollkommenen Glück. Aber nicht in Waren. Vielleicht am Rand einer Großstadt. Rostock ist schön. Ruhig, aber nicht zu ruhig. Allerdings ist es mir wichtig, auch zu arbeiten, ich möchte nicht nur zu Hause sein und mich mit dem Kind beschäftigen. Es soll auch mit anderen Menschen Kontakte knüpfen im Kindergarten und seine eigenen Freundschaften schließen. Arbeit gehört für mich einfach dazu. Ich möchte Arzthelferin werden in einer Kinderarztpraxis. Ein Bürojob wäre für mich unvorstellbar. Ich brauche Bewegung, Kontakt mit Menschen, und ich liebe Kinder. Da hat mich meine Mama gut beraten. Wir gehen öfter mal Kaffeetrinken und unterhalten uns. Sie schreibt mir nichts vor, sie macht Vorschläge. Als wir auf den Beruf Kinderarzthelferin kamen, dachte ich mir: „Ja, das ist es.“ Ich bin dankbar, dass sie mit mir solche Gespräche anbietet. Es geht nie darum, mich in eine Richtung zu drängen, sie betreut mich einfach – so, wie alle Mütter das machen sollten.
Mein Freund ist 19, wir sind ein sehr gut eingespieltes Team. Deswegen denke ich schon, dass er die Liebe meines Lebens sein könnte. Am glücklichsten war ich, als Ella vor vier Jahren in die Familie gekommen ist, meine ganz kleine Schwester. Sie bringt Freude in die Familie. Vor Ella aßen wir einfach nur Abendbrot. Doch jetzt zusammen mit ihr am Tisch macht es richtig Spaß, sie macht alles so lebendig.
Ich persönlich finde, dass die älteren Leute immer unfreundlicher werden. Vorhin, als ich der älteren Dame mit Rollator die Tür aufgehalten habe, kam keine Reaktion. Deswegen ist es unfair, wenn die Älteren sagen: „Ach, die Jugend von heute...“ Das größte Problem in der Gesellschaft ist, dass man immer weniger miteinander redet. Es geht alles nur noch kurz und knapp übers Handy. Man trifft sich nicht mehr, man spricht nicht über Probleme. Das ist vor allem bei meinen Altersgenossen der Fall. Eine Lösung sehe ich aktuell nicht, dafür sind die Menschen noch nicht bereit. Was ich jetzt schon merke: Ganz sorgenfrei geht es nicht. Es ist immer irgendwas. Auch wenn alles gerade perfekt scheint, kommt schon wieder ein Problem um die Ecke. Das ist immer so. Trotzdem hoffe ich darauf, irgendwann sagen zu können: „Ich habe alles richtig gemacht.“ So wie ich meiner Mutter sagen möchte: „Du hast alles richtig gemacht.“
Zurzeit gehe ich noch in die Schule und habe parallel zwei Minijobs, in der Bäckerei Hatscher in der Stadt und als Kellnerin bei Kells in Klink. Ich wollte selbständig werden und meiner alleinerziehenden Mutter nicht so auf der Tasche liegen. So kann ich ihr ein wenig die Last nehmen und mein eigenes Geld verdienen. Meine Mutter hat mich sehr früh bekommen, als Kind war ich daher oft bei meiner Oma. Meine Großmutter ist eine starke Frau. Sie schafft so unglaublich viel an einem Tag: Zwei Gärten, eine Wohnung – sie hält alles in Schuss.
Meine große Liebe ist mein jetziger Freund. Es war Liebe auf den ersten Blick. Meine Gefühle für ihn sind unendlich. Ich sehe ihn als meinen zukünftigen Mann. Zum ersten Kind hin würde ich auch gerne heiraten. Die Sache mit dem Heiratsantrag stelle ich mir aber traditionell vor, der muss von ihm kommen. Wenn ich das übernehmen würde, wäre es bestimmt auch für ihn schön, aber ich bin eher klassisch. Bis hin zur Tradition mit dem Brautschuh, den man mit Kleingeld zahlt. Meine Oma hat das auch schon gemacht. Der schönste Moment mit meinem Freund war, als er mir gesagt hat, dass er mich liebt. Für manche Menschen ist das vielleicht nichts Besonderes, aber für mich, die meinen Freund bereits da über alles liebte, war es das.
Mit manchen Personen habe ich meine Konflikte, aber jemanden zu verachten – dieses Gefühl kenne ich nicht, und aus meiner Sicht gehört es sich auch nicht. Jeder hat seine Art und seinen Charakter, jeder hat seine Vergangenheit, und das muss man einfach akzeptieren.
Ich möchte unbedingt zur Bundespolizei in die Hundestaffel. Da ist einfach viel mehr los als bei der normalen Polizei. Beim Luftwaffengeschwader der deutschen Luftwaffe habe ich auch mal reingeschnuppert. Aber Bundeswehr ist nicht so meins, bei der Bundespolizei ist mehr Action: Man ist bei den Demos dabei, steht an den Bahnhöfen, ist bei Fußballspielen. Das heißt, ich muss erst die Ausbildung zur Bundespolizistin machen, um dann in die Hundestaffel zu gehen. Die mehrtägige Panther Challenge habe ich schon bestanden, und sie meinten, ich hätte gute Chancen, aufgenommen zu werden. 99 ausgewählte Schüler konnten da mitmachen. Das war hartes Training bei über 38 Grad, wir mussten laufen, Sport machen ... Diese Prüfung bestanden zu haben, ist meine bisher wichtigste Errungenschaft. Meine Bewerbung läuft.
Unter Gleichberechtigung verstehe ich in erster Linie Freiheit. Dass jeder machen kann, was er möchte, solange es den Partner nicht verletzt. Dass man ehrlich zueinander ist. Eine meiner Freundinnen wurde von einem Jungen angegriffen, und ich ging dazwischen. Da drohte er, mir eine zu knallen. Ich meinte: „Knallst Du mir eine, knall ich Dir eine! Kennst Du das Wort Gleichberechtigung?“ Ich finde, jeder sollte Gleichberechtigung anerkennen, egal aus welcher Kultur man kommt. Weder Frauen noch Männer dürfen die Oberhand haben. Man soll sich auf Augenhöhe begegnen. Und jeder verdient Gleichberechtigung, egal ob Frau, Mann, Kind oder Jugendlicher. Jeder hat das Recht auf alles. Als Feministin sage ich natürlich: Keine Frau darf sich unterdrücken lassen!
Ich selbst fühle mich frei und selbstbestimmt, weil meine Mutter mir den Freiraum gibt, Fehler zu machen und daraus zu lernen. Mein Ziel ist es, selbständig zu werden, meinen Beruf zu haben, zu heiraten, ein Haus und zwei Kinder zu bekommen. Ich nehme mir nur vor, was ich realistisch erreichen kann. Einfach ein glückliches Leben.
Stolz bin ich darauf, dass ich gelernt habe, mit mir umzugehen. In der Schule war ich die einzige mit Migrationshintergrund. Ich sah anders aus, hieß anders, und dafür wurde ich sehr gemobbt. Also dachte ich, das Asiatische sei schlecht an mir. Keiner, selbst mein vietnamesischer Vater nicht, vermittelte mir, dass dieser Teil von mir gut war. Später habe ich verstanden, dass das Rassismus war und habe mich in der Gruppe „Schule mit Courage“ engagiert. Das hat mein Selbstbewusstsein gestärkt. Denn ich bin ja Deutsche. Obwohl ich in meiner Klasse eine Außenseiterin blieb, habe ich gelernt, das, was andere sagen, nicht mehr so nah an mich heran zu lassen. Heute weiß ich: Es geht da nur um Oberflächlichkeiten, um eine Beurteilung nach dem Aussehen. Für mich sind solche Menschen einfach nur unzufrieden mit sich selbst und suchen den Grund dafür bei anderen.
Wenn ich ein Frauenvorbild habe, dann meine mittlerweile an Brustkrebs verstorbene Chefin. Sie hat mir beigebracht, dass Fehler dafür da sind, gemacht zu werden. Das musste ich erst lernen. Ich kam vom Billig-Disounter in ihr kleines, feines Confiserie-Fachgeschäft, wo alles auf Kante und gerade stehen muss. Das ist mir nicht sofort gelungen. Sie hat mein Potential gesehen, dass ich mich bemühe, auf Menschen zuzugehen und mich weiter zu entwickeln. Sie hat mir mitgegeben, dass es nicht ist schlimm hinzufallen, solange man sich danach wieder aufraffelt und weitermacht. Einmal, das war noch während des Praktikums, war ich nicht ganz bei der Sache, und sie hat gesagt: „Nancy, wenn du keinen Spaß bei der Arbeit mehr hast, kannst du gerne nach Hause gehen.“ Am nächsten Tag war ich etwas zurückhaltender, aber sie machte mir Mut: „Nancy, du musst dich nur ein wenig besser konzentrieren.“ Auch wenn es im Leben Steine gibt, über die man stolpert ... Diese Steine kann man nehmen und sich daraus seinen Weg bauen.
Was mich stört, ist das Schönheitsideal, das Modezeitschriften verbreiten: Reine Haut, Schlankheit, es geht nur um Äußerlichkeiten. Ich wünsche mir mehr Vielfalt, mehr Rundlichkeit, unterschiedliche Arten von Schönheit. Ich bewundere Frauen, die in Männerrollen schlüpfen und dominant sind. Die keine Angst haben, klein gemacht zu werden und mit Mut rangehen. Bei Männern mag ich, wenn sie in der Lage sind, Gefühle zu zeigen. Das bedeutet ja nicht, dass man rumheult, sondern dass man sich öffnet. Letztes Jahr war ich zum ersten Mal mit meinem Vater in Vietnam. Als mir als Kind bewusst wurde, wo meine Wurzeln liegen, dachte ich immer, dass Vietnam zu meiner Heimat gehört. Als ich dann dort war und meine vietnamesische Familie kennenlernte, war das toll. Die Traditionen, das Essen, das Land. Ich habe eine Wanderung auf einen Berg gemacht und hatte dabei viel Zeit zum Nachzudenken. Da habe ich gemerkt, dass ich das, was ich immer gedacht hatte – dass Vietnam meine zweite Heimat ist – vor Ort gar nicht so empfunden habe. Es fühlte sich doch mehr nach Urlaub an. Womöglich entwickelt sich das noch, wenn ich das Land öfter besuche.
Mein wichtigstes Gut ist meine Persönlichkeit mit meinem vietnamesischen Hintergrund. Das bin ich, das macht mich aus, daraus kann ich etwas machen. Es hat einen Wiedererkennungswert: nicht Nancy Müller, sondern Nancy Kieu.