MARIA 2.0

“SEHNSUCHT BRICHT SICH IMMER BAHNEN”

Text und Foto: Saskia Reis

Eine kleine Frauengruppe aus Münster rief im Mai 2019 als Maria 2.0 zu einer bundesweiten Protestaktion auf: Katholikinnen sollen eine Woche lang ihre Arbeit für die Kirche niederlegen. Ihre Forderung: Aufklärung der Missbrauchsfälle, Aufgabe des Pflichtzölibats und der Zugang für Frauen zu Weiheämtern. Lisa Kötter steht mit einer Handvoll weiteren Frauen an der Spitze der sich mittlerweile weltweit ausbreitenden Bewegung. 

Das Portrait entstand im Rahmen der Maria 2.0-Abschlussveranstaltung am 18.05.2019 in Münster.

Die Abendsonne hängt noch im Süden, als sie um 17 Uhr die Heilig-Kreuz-Kirche in Münster in warmes Licht taucht. Zur vollen Stunde läuten die Kirchglocken. Auf der Südseite des Kirchturms steht in dicken Buchstaben „Ich“, auf der Ostseite „bin“, im Norden ist das „da“ angebracht. Ich bin da. Am Rande der Vorbereitungen zur Wortgottesfeier, die den Abschluss des einwöchigen Frauenkirchenstreiks von Maria 2.0 besiegelt, sitzt Lisa Kötter und übt Gitarrengriffe. Sie macht sich Notizen, aber die Übung will nicht gelingen. „Es wird schon klappen“, meint sie, als wolle sie jede Unsicherheit wegwischen. Einen Perfektionsanspruch hat Lisa Kötter nicht. Sie braucht ihn auch nicht. Die 59-Jährige hat Gottvertrauen, das sie gleichsetzt mit Selbstvertrauen, wie sie selbst sagt. Sie weiß, dass alles gut wird.

„Die Kirche ist wie unsere zweite Haut, die wir uns nicht vom Leib reißen wollen“, spricht sie ins Mikrofon, als sie die Feier, eine Art Open-Air-Gottesdienst, auf dem Kirchenvorplatz eröffnet. Ihr Liebesgedicht an die Kirche liest sie mit ruhiger Stimme vor. Lisa Kötter inszeniert nicht, weder sich selbst, noch ihre Rede. Wenn eine Mitstreiterin einen früheren Pfarrer als „intellektuellen Theologen“ bezeichnet, stellt sie nüchtern fest: „Ein Korinthenkacker ist der gewesen.“

Die Frauen von Maria 2.0 nennen die Dinge beim Namen: den Machtmissbrauch und die sexualisierte Gewalt in der Kirche. Und sie appellieren an die Männer, die Verantwortung tragen, sich an ihre Ämter und die Tradition klammern. Sie beten und treten ein für Ausgegrenzte, Geschiedene, Homosexuelle, und die Erneuerer der Kirche. Und die Frauen wissen: Das wird ein langer Kampf. „Die dafür nötige Geduld bringen wir mit“, erklärt Lisa Kötter mit zuversichtlichem Blick. Ihre wachen, grau-blauen Augen blitzen dabei entschlossen. Sie ist sich darüber im Klaren, dass die Bewegung ihre Ziele im Angesicht des etablierten Männer-Machtapparats der Kirche nicht von heute auf morgen erreichen werden.

Die freischaffende Künstlerin hat mit ihren Portraits von Frauen mit zugeklebten Mündern und dem handgemalten Logo Maria 2.0 das von den Medien verbreitete visuelle Erscheinungsbild gegeben. Ihr ist anzusehen, dass sie ein gutes Leben führt. Im Sinne der Marias weiß gekleidet, mit Porzellanteint und zart roten Lippen, wirkt sie gepflegt und klischeemäßig rein. Zurzeit schreibt sie viele E-Mails. Sie beantwortet Fragen, die Gläubige ihr von überall her senden. Lisa Kötter muss dabei oft mit Kritik umgehen, auch von Gewaltbetroffenen. Die einen sagen, die Marias sollten noch viel schärfer sprechen, die anderen fühlen sich von ihren Worten und Texten zum zweiten oder dritten Mal verletzt. Ihnen sagt sie, dass es keine angemessene Sprache dafür gebe, was ihnen und so vielen anderen Menschen durch die Kirche widerfahren ist. Jeder Ausdruck sei unangemessen. „Die Abwesenheit von Frauen führt zu einer Abwesenheit von Demokratie und Transparenz, was zwangsläufig übergeht in Missbrauch und Gewalt“, schreibt sie. Das überzeugt viele, auch Zweifler*innen, die mittlerweile zu Unterstützer*innen geworden sind.

Freigeist, Feministin und Gläubige. Im Alter von 20 bis 35 war sie als „Ostern- und Weihnachts-Kirchgängerin“ nahezu ohne die Kirche unterwegs. Der früh verstorbene Pfarrer Andreas sah wohl etwas in ihr, gewann sie schließlich für den Kommunionvorbereitungsunterricht und damit ein Stück weit zurück in die Kirche. „Er war ein richtiger Franziskaner und sah Glauben als einen Ort für Spiritualität, ohne Macht und ohne Geld.“ Diese Sichtweise hat die beiden verbunden. Er ließ sie einfach machen. Niemals, sagt sie, hätte sie den Kindern etwas nahegebracht, von dem sie selbst nicht überzeugt ist. „Die katholischen Traditionen sind sehr schön, das finde ich so in der evangelischen Kirche nicht“, erklärt sie. „Es ist meine Kultur, mein Zuhause, das hat nichts mit Vernunft zu tun.“

Früher war sie an linken Milieus und am Sozialismus interessiert, verehrte den italienischen Filmregisseur Pasolini: „Er war Christ, schwul und Kommunist – für viele passte das nicht, aber für mich ging das wunderbar zusammen.“ Es war die Zeit der Anti-AKW-Bewegung und Lisa Kötter entdeckte den Feminismus für sich. Doch in ihrer damaligen „Frauenpower-Gruppe“ – als einzige ging sie als Jugendliche noch in die Kirche – stach sie heraus: „Ich war strange, Kirche war total out, und ich stand zwischen den Stühlen.“ Eindeutige Freund- und Feindesbilder, wie ihre Clique oder ihre Eltern habe sie nie gehabt: „Anders als sie, fand ich es interessant, mich mit Andersdenkenden auseinanderzusetzen.“ Zu Hause ging es streng katholisch zu: „Es wurde immer Rosenkranz gebetet, es gab kein Zubettgehen ohne Segen.“ Beten habe ihr immer geholfen als Kind. Das Vertrauen in eine Kraft, die die Menschen liebt, hat sie stets begleitet. Doch mit zehn Jahren begann sie sich die Frage zu stellen, „ob die Kirche, so wie sie ist, rund ist und was sie mit Gott zu tun hat“. Sie entdeckte Widersprüche – „selig sind die Armen“ – und entfernte sich von der Kirche, aber nie von ihrem Glauben.

Lisa Kötter, die mit ihrer körperlichen Aufrichtigkeit und den hochgesteckten aschbraunen Haaren Stärke, Zuversicht und Agilität ausstrahlt, hat vieles begonnen, doch keine Ausbildung beendet. Erst hat sie Kunst studiert, dann Theologie und schließlich eine Ausbildung zur Keramikerin begonnen. „Dazwischen bekam ich meine vier Kinder und war mit Familienarbeit beschäftigt.“ Südlich von Göttingen, wo sie vor 25 Jahren mit ihrem heutigen Mann und den Kindern in einer alten Wassermühle lebte, co-gründete sie einen sozialen Handweberei-Betrieb. Vier Jahre später zog die Familie zurück nach Münster. Dort co-gründete sie ein Figurentheater, das biblische Kinderstücke darbot. Vor drei Jahren beschloss sie dann, sich ganz auf ihre Kunst zu konzentrieren. Für Stipendien oder Künstlerförderungen habe sie sich nie interessiert, „weil ich unbedingt frei sein muss. Ich kann es nicht ertragen, eine Gegenleistung erbringen zu müssen. Ich tue lieber, was ich möchte.“ Seit sieben Jahren veranstaltet sie auf dem südniedersächsichen Rittergut Besenhausen, wo sie ein Atelier unterhält, eine jährliche Ausstellung. Mit dem Erlös hat sie sich stets das Mindesteinkommen für die Künstlersozialkasse erwirtschaftet.

Heute sitzt sie im beliebten Münsteraner Kreuzviertel – der Quadratmeterpreis Münsters liegt mit aktuell 3.847 EUR weit über dem bundesdeutschen Durchschnitt –  im gepflegten, idyllischen Garten ihres früheren Elternhauses unweit der Kreuzkirche. Man fragt sich, woher dieser Antrieb kommt, die römisch-katholische Kirche erneuern zu wollen. „Ich glaube, ich hatte vorher keine richtige Berufung. Das ändert sich gerade“, sagt sie. „Ich möchte niemanden verletzen, aber mit Herz und Verstand die Kirche reformieren.“ Spiritualität und Kirche sind für Lisa Kötter eigentlich zwei paar Schuhe, die katholische Kirche nur die Form. Sie glaubt: „Ich könnte die Rituale auch ohne die Kirche pflegen.“ Doch nach und nach begreift sie die politische Dimension ihres Anliegens: „Alles, was wir mit Maria 2.0 tun, ist Frauenrechte zu stärken. Das ist auch der Grund für mich, in der Kirche zu bleiben.“ Das System lässt sich, davon ist sie überzeugt, nur von Innen verändern: als Mitglied der Kirche. „Wenn wir es schaffen, für die weltweit 1,3 Milliarden Mitglieder etwas zu verändern, dann verändern wir die ganze Welt.“ Das Frauenbild ihrer Mutter lautete: „Wir sind die silbernen Schalen, in die die Männer ihre goldenen Früchte legen.“ Für Lisa Kötter ein Satz, der das fatale alte, katholische Frauenbild illustriert. „Die katholische Kirche hat die Frauen immer, bis ins letzte Jahrhundert hinein als passives Gefäß für die Frucht des Mannes angesehen und damit zum einzig Nützlichen, zu dem eine Frau fähig ist: zum Gebären. Dieses Bild ist zutiefst verachtend." Auch daher lautet Lisa Kötters Motto: Wer Frauen stärkt, stärkt die Gesellschaft. Und sie sagt auch: „Wenn wir dieses Anliegen nicht hätten, könnte ich nicht in der Kirche bleiben.“

Nach der Wortgottesfeier stehen die Marias in vielen kleinen Gruppen auf dem Vorplatz. Sie reden, tauschen sich aus. Eine Dame einer gemeindlichen Lepra-Strickgruppe hat Lisa Kötter geschrieben: „Diese Woche haben wir keine einzige Masche gestrickt!“ Wie es weitergeht, bewegt viele. „Nicht, dass es jetzt gleich wieder verpufft“, befürchtet eine ältere Dame mit weißer Ansteckblume am Revers. „Da verpufft nichts“, versichert Lisa Kötter, „Sehnsucht bricht sich immer Bahnen.“ Ruth, eine Mitinitiatorin sagt über Lisa: „Sie ist so begabt, im Sinne von Gabe, sie macht das alles so beseelt und nicht abgedroschen.“ Barbara, auch aus der Gruppe der Marias, meint gar mit glühenden Augen: „Lisa schreibt Kirchengeschichte.“ Die Sonne ist untergegangen. Auf dem westlichen Kirchturm steht „Ja“.

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